Und der Raz de Sein war uns gnädig - wir hatten auch gut geplant. Man kann ihn eigentlich nur an zwei Zeitpunkten passieren: beim Stillwasser (étale) vom auflaufenden Wasser (flot, Nordströmung) zum ablaufenden Wasser (jusant, Südströmung) oder sechs Stunden später beim Stillwasser zwischen ablaufendem Wasser und auflaufenden Wasser. Beachten muss man, dass die Kanalanwohner den Englischen Kanal, an dessen Eingang der Raz sich befindet, wie einen Fluss ansehen, also z.B. die Elbe: auflaufendes Wasser (amont) nach Norden und später nach Osten (Richtung Dover), ablaufendes Wasser (aval) nach Süden bzw. nach Westen. Das Stillwasser ist am Raz nicht eigentlich still, aber die Strömung legt eine kleine Atempause ein, 20 Minuten lang ist mal nicht die Hölle los.
Südbretagne 2019
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Südbretagne Raz de Sein
Das Wichtigste ist die unbedingte Vermeidung einer Situation Wind- gegen-Strömung, denn der Wellengang wird unbeherrschbar. Und daher - wir hatten SW 3-4 - wählten wir für die Anfahrt von Brest bis zum Raz (26sm) eher die Situation “Wind UND Strömung gegen uns”. Es gibt dabei einige Tricks, ähnlich wie bei der Fahrt von Cherbourg nach Guernsey um das Cap de la Hague, indem man z.B. den Nerstrom nutzt und in dessen Schatten ganz gut gegen die Gegenströmung ankommt. Am Raz, von Norden kommend, liegt dieser Bereich östlich der eigentlich kürzesten Route, hier hat man passagenweise sogar Schiebe- strom. Die Konsultation der Strömungsatlanten des SHOM ist hilfreich. Wir kamen also bei Stillwasser an und nutzten dann knapp nach dem Raz die Süd- strömung, vermieden es aber tunlichst, sich schon im Raz von der verlockenden Aussicht, endlich Schiebestrom zu haben, verführen zu lassen, denn selbst bei Windstärke 3-4, das wird kritisch.
Und was sieht man? Ganz oben rechts den Leuchtturm Tevennec, der wie eine kleine Kapelle aussieht, und links daneben in der Ferne den Leuchtturm Le Chat, auf den man (falls man wie wir den östlichen Kurs nimmt) ganz gut mit Kurs 215° zufahren kann. Dahinter befindet sich die Île de Sein, die dem Raz ihren Namen gibt. Nach Süden (2. Bild) sieht schon früh die beiden backbordseitigen, also östlichen Begrenzungen des Raz, den berühmten Leuchtturm La Vieille und die riesige, gemauerte West-Boje La Plate. Die Perspektive täuscht, da sollte niemand durchfahren, sondern schön westlich umrunden. Noch weiter östlich (3. Bild) erkennt man das Festland mit der Semaphore, der “Steuerzentrale” dieser kritischen Region.
Um so weiter man durch den Raz nach Süden kommt (Erleichterung!), um so mehr erkennt man wegen der Lichtverhältnisse die Architektur von La Vieille und La Plate, speziell erstere sieht ja eindrucksvoll aus. Wer erkennt den Leuchtturmwärter, der gerade - wie auf zahllosen Maritim-Kalendern - aus der Tür tritt und gleich von der Riesenwelle erschlagen wird?