Eines der wichtigsten Problembereiche im Gesundheitswesen bezieht sich auf die Darstellung von Nutzen und Bedarf. Der
Nutzen von Behandlungsmethoden besteht aus der Verbesserung des gesundheitlichen Zstandes abzüglich der Therapie-
bezogenen unerwünschten Wirkungen (sog. Netto-Nutzen). Der Bedarf an Versorgungsleistungen ist ein Zustand, dessen
Behandlung einen gesundheitlichen Nutzen erwarten lässt, und grenzt
sich daher vom Begriff der Nachfrage ab, die den Wunsch nach
Versorgung bei gegebener Zahlungsbereitschaft beschreibt (ohne auf
den Nutzen zu rekurrieren). Ein objektiver Bedarf liegt dann vor, wenn
die Zunahme des gesundheitlichen Nutzens fachlich bzw.
wissenschaftlich begründet ist (s. Abb. 5). Die fachliche Begründung
erfolgt durch die gehandhabte Praxis der professionellen Einrichtungen,
die wissenschaftliche Begründung durch die klinisch-evaluative und
Versorgungsforschung.
Bevor man sich vor diesem Hintergrund mit der Frage der Evaluation
und Validität ensprechender Untersuchungen auseinandersetzt, steht
eine Klärung an, um welche Nutzen-Bestandteile es denn in der
klinisch-evaluativen und in der Versorgungsforschung geht. Die
kllinisch-evaluative Forschung beschreibt Nutzenbestandteile, die in
biomedizinischen Parametern zu fassen sind (Überlebenszeit,
Heilungsraten etc.), weiterhin identifiziert sie ebensolche
Einflussgrößen, die auf diese Parameter einwirken (z.B. Alter, Komorbidität). Die Versorgungsforschung hat dagegen ein sehr
viel größeres Feld von Nutzenbestandteilen und ebenso von Einflussfaktoren zum Gegenstand, die man im Allgemeinen
folgendermaßen einteilt:
● Patienten-seitige Parameter
● Professionelle Parameter
● Institutionelle Parameter
● Systemparameter
An dieser Stelle kann aus Platzgründen nicht die gesamte Systematik aufgerollt werden, es muss aber die Frage geklärt
werden, wie in der Versorgungsforschung die Vielzahl von Nutzenbestandteilen und Einflussfaktoren, die hier den Gegenstand
ausmachen, zusammenfassend bezeichnet werden. Es mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass hier auf das
wording abgehoben wird, doch eine “handliche” Begrifflichkeit für den Forschungsgegenstand ist für ein Forschungsfeld, wie es
die Versorgungsforschung darstellt, unerlässlich. Dies gilt in Abgrenzung zu anderen Forschungsfeldern, dient zur Klärung der
Kooperationsmöglichkeiten und ist unerlässlich, will die Versorgungsforschung sich nicht als kumulativ-additiver
“Häufelungsbegriff” unter Preis verkaufen à la “Gegenstand sind Lebensqualität, Patient-Reported Outcomes, institutionelle
Performance, Effizienz usw. usf.”.
Der Sachverständigenrat, der ja in seiner Arbeit der letzten 15 Jahre sehr häufig auf den Begriff der Versorgungsforschung
Bezug genommen hat, hat daher im Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Begriffe Nutzen und Bedarf im Gutachten 2001
(SVR 2001, III. 1, Nr. 24 und 30 ff) die Nutzenbestandteile, die auf den Kontext von Gesundheitsleistungen zurückgehen, im
Gutachten 2007 unter den Begriff der Angemessenheit (engl. appropriateness) gefasst (SVR 2008, Nr. 579). Das Attribut
„angemessen“, das als Eigenschaft von Leistungen des Gesundheitswesens in Deutschland bis dahin wenig Beachtung
gefunden hatte, wird Umgangssprachlich im Sinne von „passend“, „adäquat“ und „den Bedürfnissen entsprechend“ verwendet.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat sich allerdings zusammen mit der WHO in einem Workshop im Jahre 2000 des
Themas angenommen und damals festgestellt, dass der Begriff der Angemessenheit über die klinische Beschreibung des
Nutzens von Methoden hinaus geht und „das öffentliche Gesundheitswesen betreffende, ökonomische, soziale, ethische und
rechtliche Überlegungen“ beschreibt (BMG 2001). Im internationalen Schrifttum ist der Begriff der Angemessenheit schon
länger in Verwendung, es werden drei Ebenen unterschieden. Ein relativ einfaches Verständnis betrifft die Konformität mit
Qualitätsanforderungen und wird z. B. in der Compliance-Forschung von Leitlinien verwendet. Auf der zweiten Ebene wird
Angemessenheit als Qualitätsdimension verstanden (Donebedian 1990). Die dritte Ebene geht insofern darüber hinaus, als sie
Angemessenheit als Kontext der Umsetzung von Verfahren im Gesundheitswesen beschreibt (Brook et al. 1986).
Der Sachverständigenrat hat auf diesem Hintergrund Angemessenheit
„als Attribut wirksamer Maßnahmen“ definiert, „in dem deren Effizienz
und deren Übereinstimmung mit Grundsätzen, Werten und
Präferenzen auf der Ebene von Personen, Gemeinschaften und
Gesellschaft zusammenfassend zum Ausdruck kommt“ (SVR 2008,
Nr. 579). In dieser Definition wird die (absolute) Wirksamkeit von
Maßnahmen (efficacy) vorausgesetzt und der Begriff der
Angemessenheit für die Gesamtheit der Aspekte der relativen
Wirksamkeit (effectiveness) verwendet. Besondere Bedeutung hat bei
dieser Betrachtung, dass auch die Effizienz unter dem Begriff der
Angemessenheit subsumiert wird, da letztlich auch die Wertung
gesundheitsökonomischer Ergebnisse in der Diskurshoheit von
Personen, Gemeinschaften und Gesellschaft liegt.
Die Angemessenheit von Gesundheitsleistungen stellt aus dieser Sicht
den zentralen Gegenstand der auf die Evaluation der relativen
Wirksamkeit gerichteten Versorgungsforschung dar. In der
Allokationsfrage ist natürlich die absolute Wirksamkeit (efficacy) die erste (notwendige) Bedingung für eine positive
Entscheidung, allerdings ist die Angemessenheit als zweite notwendige Bedingung ebenfalls mit hinzuzuziehen (relative
Wirksamkeit, effectiveness). Aus der Schnittmenge ergibt sich der objektive Bedarf (s. Abb. 6).
(weiter: 3. Evaluation. 3.1. Evidence-Based Health Care)
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2. Methode der Problemdefinition
2.2. Nutzen und Bedarf: Angemessenheit
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
M. Schrappe; Versorgungs-
forschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation
Abb. 5: Bedarf, objektiver Bedarf und Nachfrage. Der
Begriff des Bedarfs bezieht sich auf den gesundheitlichen
(Netto-)Nutzen.
Abb. 6: Angemessenheit von Behandlungsverfahren.
Die absolute Wirksamkeit stellt die notwendige Bedingung
für den Nutzen und somit die Allokationsentscheidung dar,
die Angemessenheit muss durch die Versorgungsforschung
jedoch auch nachgewiesen sein (objektiver Bedarf).