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Matthias Schrappe
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Markt und Moral. Die großen Ökonomen und ihre Ideen von Sylvia Nasar, C. Bertelsmann, München, 2012 (ISBN 978-3-570-10026-4) Wer hat den wunderbaren Film “Genie und Wahnsinn” (”A Beautiful Mind”) mit Russell Crowe in der Hauptrolle gesehen? Es ist die Geschichte von John Forbes Nash, dem “Erfinder” des “Nash-Gleichgewichts” und dem Pionier der Spieltheorie, einem paranoiden Autisten, der sich immer von Spionen verfolgt und zum Dechiffrier-Dienst für das Vaterland gepresst fühlt. Das Buch zu diesem 4 Oskars schweren Film (u.a. bester Film, beste Regie) hat Sylvia Nasar geschrieben, die Autorin vom hier besprochenen “Markt und Moral”, Professorin für Journalistik an der Colombia University und studierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Und Sylvia Nasar’s “Markt und Moral” hat es in sich, es schlägt den Bogen von Charles Dickens bis Amartya Sen, vom London Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Bengalen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von der auswegslosen Theorie des Malthusianismus (die keine Perspektive für die Hungernden aufzeigen konnte) bis zur differenzierten modernen Ökonomie. Sie wählte zur Darstellung, so sagt Nasar im Vorwort, “Männer und Frauen mit kühlen Köpfen, aber heißem Herzen“, sie bezieht sehr deutlich den sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund der jeweiligen ökonomischen Theoriebildung sowie den privaten Hintergrund der Protagonisten mit ein. Und sie wirft ein wohlwollendes Auge auf die Frauen, die Ökonominnen, von Jane Austen über Beatrice Webb bis Joan Robinson. Der Detailreichtum dieses nicht leichtgewichtigen aber durchaus leichtfüßigen Buches (596 Seiten plus ordentlich Anhang) ist enorm, und auf Schritt und Tritt wird man an viele der Kontroversen von heute erinnert, wo wir uns ja seit Lehman Brothers mitten in einer langdauernden Wirtschaftskrise befinden. Oder - je nach Standpunkt - man fragt sich, worüber heute eigentlich gestritten wird, als ob man sich in unserer Zeit diesen Problemen ganz erstmalig gegenübersehen würde. Dabei treten viele alte Bekannte auf, der notorische homo aeconomicus etwa, obwohl dieser bereits im Jahr 1906 durch den amerikanischen Ökonom Irving Fisher, einer der Väter der mathematisch orientierten Volkswirtschaftslehre, für mausetot erklärt worden ist. Selbst wenn sich der Mensch vollständig rational verhielte (wenn das denn ginge), so erkannte man bereits damals, selbst dann sei (im Zusammenspiel Vieler) dem Gemeinwohl nicht zwangsläufig gedient, sondern es bedürfe eines aktiven Staates (für vielerleit Aufgaben, z.B. zur Kontrolle der Geldmenge). Auch die Schwäbische Hausfrau treffen wir wieder, die von Frau Merkel ja immer wieder in der Eurokrise und auch im Bundestag zitiert wurde, wenn es um makroökonomische Sachverhalte ging. Allerdings ist auch diese bereits seit 80 Jahren nicht mehr so ganz frisch, als man nämlich erkannte, dass die Aufgaben des Staates andere sind als die Bewirtschaftung eines Haushaltes oder eines Unternehmens, insbesondere was das Umgehen mit Schulden angeht. Und adressiert an die Moralisten: Konjunkturzyklen, das ewige Auf und Ab, sind keine Frage von Gut und Böse, Exzessen und Bestrafungen, sondern “ökonomische Krankheiten” (Keynes, Irving) aufgrund von falschen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Ja, ja, die Griechen. Und erstaunt muss man realisieren, dass wir uns in Deutschland schon zweimal in einer ähnlichen, völlig überschuldeten Situation wie heute Griechenland befanden, jeweils nach den Weltkriegen - ohne dass Griechenland zwei Weltkriege auf dem Gewissen hätte, das muss man festhalten. Und dass es ernstzunehmende Stimmen gab, Deutschland nicht völlig durch Schulden zu lähmen, jede Chance auf einen wirtschaftlichen Wiederaufbau zu nehmen. Nach 1. Weltkrieg setzte sich noch die kompromisslose Position durch, nach dem 2. Weltkrieg gewann die keynesianische Position die Oberhand, aus dem Morgenthau- wurde ein Marshall-Plan. Man erschrickt vielleicht ein bisschen: in der großen Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 (oder bis 1938, wie man es nimmt: 10 Jahre!), die niemand vorausgesehen hatte, passierte nämlich das Ungeheuerliche, dass trotz eines Zinsniveaus von 0% keine Besserung in Sicht war, die Arbeitslosigkeit hoch blieb, die Produktion am Boden. Da die nominalen Zinsen nun schlecht unter 0 fallen konnten (kommt einem doch aus der heutigen Diskussion bekannt vor), blieb nur die Option der Defizitfinanzierung, der Steuererhöhung, ja in den USA überhaupt die erstmalige Einführung von zeitnah abzuführenden Steuern, wofür ironischerweise der spätere Reagonimics-Verfechter Milton Friedman verantwortlich zeichnete. Und zum Schluss, als ein weiteres Beispiel, reibt man sich die Augen, wenn man dem “Multiplikator” begegnet, durch den aus jedem Dollar (nein: Euro), den man (defizitfinanziert) in der Krise investiert, mehr als ein Euro an vermehrter Kaufkraft und an wirtschaftlichem Input (z.B. Investitionen) in die Wirtschaft zurückkehrt. War etwa John Maynard Keynes während des Wahlkampfes posthum in Düsseldorf zu Besuch? Solche überraschenden Begegnungen hat man mehrere in diesem Buch. Inspirierend, auch wenn man sich schon mal mit Ökonomie beschäftigt hat. Inspirierend vor allem auch, um sich noch weiter mit Ökonomie zu beschäftigen.
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